Von allen guten Geistern verlassen …
So fühlen sich gerade viele Menschen. Meine Cousine, die als Geschäftsführerin eines Einzelhandelsgeschäft es um ihre und die Zukunft ihrer Angestellten bangt. Kranke und alte Menschen, die nun seit über einem Jahr zunehmend
allein und einsam sind. Schulkinder, die nur noch die Spielkonsole als „Freund“ haben. Eltern im Homeoffice, die von der Fülle der auf sie einstürmenden
Anforderungen nur noch die Flucht ergreifen möchten. Von allen guten Geistern verlassen, vereinsamt, überfordert, bedroht – Coronagefühl heute im Jahr 2021.
Seufzen, schreien, verzweifelt, klagen und dennoch die Hoff nung nicht aufgeben
… das sind zutiefst menschliche Lebensäußerungen und sie sind so alt wie die Menschheit selbst. Lebensäußerungen, von denen auch die Heilige Schrift voll ist, ganz aktuell. Lesen Sie selbst …
Verlassen – mein Rufen mit Psalm 55
Psalm 55 in den Worten der Heiligen Schrift (Ausschnitte)
2 Vernimm, Gott , mein Bittgebet, verbirg dich nicht vor meinem Flehen!
3 Achte auf mich und erhöre mich! Klagend irre ich umher und bin verstört
4 wegen des Geschreis des Feindes, unter dem Druck des Frevlers. Denn sie überhäufen mich mit Unheil und befehden mich voller Grimm.
5 Mir bebt das Herz in der Brust; mich überfielen die Schrecken des Todes.
6 Furcht und Zittern erfassten mich; ich schauderte vor Entsetzen.
7 Da dachte ich: Hätte ich doch Flügel wie eine Taube, dann flöge ich davon und käme zur Ruhe.
8 Siehe, weit fort möchte ich fliehen, die Nacht verbringen in der Wüste.
9 An einen sicheren Ort möchte ich eilen vor dem Wetter, vor dem tobenden Sturm.
17 Ich aber, zu Gott will ich rufen und der HERR wird mich retten.
18 Am Abend, am Morgen und am Mittag seufze ich und stöhne, da hat er meine Summe gehört.
23 Wirf deine Sorge auf den HERRN, er wird dich erhalten! Niemals lässt er den Gerechten wanken.
Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift , vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe
© 2016 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart.
Psalm 55 in einfachen, heutigen Worten
Höre mein Bitten, Gott,
versteck dich nicht vor mir.
Schau auf mich,
höre mir zu.
Ich weiß nicht mehr weiter
und bin verstört.
Mein Herz schlägt wie wild,
ich habe Angst, Todesangst sogar.
Mir zittern die Hände,
ich weiß nicht mehr weiter.
Ich träume davon,
frei zu sein wie ein Vogel.
Ich fliege frei, lass mich tragen,
sehe aus den Wolken hinunter
und werde ruhig.
Weit weg möchte ich fliegen
an den Ort meiner Sehnsucht.
An einen sicheren, friedlichen Ort,
an einen Ort, wo es kein Leid gibt.
Ich höre nicht auf, dich, Gott, zu suchen,
dich, Gott, der/die mich retten wird.
Zu jeder Stunde des Tages klage ich,
ich weiß, meine Summe wird gehört.
So sage ich: Wirf deine Sorgen auf Gott,
er wird sich um dich kümmern.
© Thomas Höhn
Verlassen – fünf Minuten mit Psalm 55
Setzen Sie sich hin. Suchen Sie einen Ort oder Platz, der für Sie eine gute, ruhige Atmosphäre hat. Achten Sie zunächst auf Ihren Atem. Das Ein- und Ausströmen der Luft . Lassen Sie mal locker. Lassen Sie Ihre Gedanken kommen und
gehen. Was kommt, ist gut und darf sein.
Dann lesen Sie noch einmal – Satz für Satz – ganz langsam den Psalm oder die Übertragung.
Achten Sie auf Ihre inneren Bilder, die sich einstellen. Sind es eher die zuversichtlichen Momente? Ist es die Klage und das unablässige Rufen? Ist es der Gedanke, zu entfliehen, wegzufliegen?
Nach einer Weile kommen Sie bewusst aus Ihrer Reise nach innen zurück.
Was möglicherweise geschehen ist in dieser kurzen Zeit. Auf dem Weg nach innen sind Sie möglicherweise Gott begegnet. Vielleicht haben Sie das gar nicht bemerkt. Aber auf dem Weg nach innen gehen Sie auch über sich hinaus.
Sie öffnen sich einer inneren, seelischen Wirklichkeit. Wir Christ*innen nennen diese Wirklichkeit „Gott“. Das ist schwer zu begreifen.
Mit ziemlicher Sicherheit hat sich nach Ihrer kleinen Reise nach innen die äußere, bedrückende Situation nicht geändert. Es ist alles noch genauso wie vorher. Aber möglicherweise haben Sie sich ein wenig verändert. Möglicherweise ist Ihnen etwas Neues in den Blick geraten, vielleicht hat sich die Perspektive auf das Äußere ein klein wenig verschoben.
Wenn Sie wollen, wiederholen Sie diese Übung morgen wieder und übermorgen … gehen Sie mit den Worten des Psalms durch die Woche.
Verlassen – ein Bild
Lassen Sie das Bild eine Weile auf sich wirken.
Betrachten Sie es in allen Einzelheiten.
Möchten Sie diesen verlassenen Ort erkunden?
Welche Gefühle steigen aus Ihrem Inneren auf?
Wollen Ihnen diese Gefühle etwas sagen?
Wie könnte man diese Räume wohl wieder mit Leben füllen?
Und Ihr Leben?
Verlassen ©Thomas Höhn
Verlassen – ein Lied
Verlassen – und jetzt
Vielleicht warten Sie auf die „Es-wird-alles-gut-Kurve“. Diese wird jetzt nicht kommen. Es geht darum, das Gefühl des Verlassen-Seins ernst zu nehmen, vielleicht auch darum, es auszuhalten. In den Bildern und Texten dieser ersten Ausgabe der Coronagefühle finden Sie womöglich auch Antworten auf das Gefühl – Ihre Antworten, keine vorformulierten, übergestülpten Antworten.
Wenn Ihnen die Gedanken gefallen haben, dann teilen Sie diese. Leiten Sie sie weiter.
Sprechen Sie über Ihre Reise nach innen, über Ihre Coronagefühle.
Alle Coronagefühle auch online unter: www.gemeindekatechese.erzbistum-bamberg.de
Impressum:
Erzbischöfl iches Ordinariat Bamberg | Hauptabteilung Seelsorge | Fachbereich Gemeindekatechese
Jakobsplatz 9 | 96049 Bamberg | Tel. 0951/502-2105 |E-Mail: gemeindekatechese@erzbistum-bamberg.de
© alle freien Texte und Bilder: Thomas Höhn
Layout und Grafi k: Anita Schmi